Gestern stellte der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme zum Thema Intersexualität auf einer öffentlichen Pressekonferenz vor. Die Stellungnahme ist das Ergebnis eines mehrmonatigen Dialogverfahrens mit betroffenen Sachverständigen und Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen. Die zentralen Fragen: Wie sieht das Leben intersexueller Menschen in Deutschland aus? Wie wird im medizinischen Apparat mit ihnen umgegangen? Wie und wo finden Diskriminierungen statt? Wie kann ihre Situation verbessert werden? Die Kooperative Berlin war am Dialogverfahren zur Erarbeitung der Stellungnahme konzeptuell und redaktionell beteiligt.

Leben zwischen den Geschlechtern, jenseits der Geschlechter oder mit beiden Geschlechtern – verschiedene Auslegungen eines Lebensumstandes: Menschen mit Intersexualität weisen sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale auf. Das Personenstandsgesetz zwingt die Eltern nach der Geburt ihres Kindes binnen weniger Tage ein Geschlecht anzugeben. Zur Auswahl stehen zwei: männlich oder weiblich. Ein Offenlassen ist nicht möglich. Unter anderem deshalb raten Mediziner oftmals zu geschlechtsangleichenden Operationen schon im Säuglingsalter. Häufig zieht das lebenslange Nachbehandlungen und Medikamenteneinnahme nach sich. Später kommt bei vielen Betroffenen das Gefühl auf, die Deutungshoheit über sich selbst entzogen bekommen zu haben, ein Leben zu leben, das ihnen zugewiesen wurde, aber nicht ihren eigenen Vorstellungen entspricht. Durch das Leben zwischengeschlechtlicher Menschen zieht sich eine Vielzahl von Diskriminierungen, die teilweise durch Gesetze, teilweise durch den medizinischen Umgang und die gesellschaftliche Tabuisierung dieses Themas entstehen.

Der Deutsche Ethikrat wurde daher 2010 von der Bundesregierung aufgefordert eine Stellungnahme zum Leben intersexueller Menschen in Deutschland zu verfassen. Er nahm den Dialog mit Betroffenen, Selbsthilfeorganisationen, Ärzten und Wissenschaftlern mit einschlägiger Expertise in einem mehrstufigen Verfahren auf. Den ersten Schritt stellte eine Befragung Betroffener und das Einholen von Expertenstellungnahmen dar. Vom 2. Mai bis 19. Juni 2011 konnten Betroffene online und anonym einen Fragebogen ausfüllen. Es beteiligten sich 201 Personen. Am 8. Juni 2011 folgte eine öffentliche Anhörung. Betroffene, Angehörige von Betroffenen und Experten diskutierten über zentrale medizinische, juristische und die Lebensqualität betreffende Aspekte. Die Kooperative interviewte alle geladenen Redner und bloggte aus der Anhörung. Bereitgestellt wurden die Video-Interviews und Blogartikel auf diskurs.ethikrat.org, einem Debattenportal, das zur Fortführung des Dialogs im digitalen Raum bereitgestellt wurde und den dritten Schritt des Dialogverfahrens darstellte. Das Weblog ist Ergebnis konzeptueller Beratungen seitens der Kooperative, die auch die Umsetzung und redaktionelle Betreuung durchführte. Der Online-Diskurs Intersexualität startete mit der öffentlichen Anhörung am 8. Juni 2011. Wöchentlich wurden dienstags und donnerstags Artikel von Betroffenen und Experten veröffentlicht, die in Kommentaren von allen Interessierten weiter diskutiert werden konnten. 64 Tage standen die Türen des Online-Diskurses 24 Stunden, 7 Tage die Woche offen für Meinungsäußerungen zur Thematik. Das Ergebnis: Knapp 35.000 Seitenaufrufe, 50 veröffentlichte Artikel, 727,  meist tausende von Zeichen lange, Kommentare, Berichte von eigenen Erfahrungen, erschütternde Lebensgeschichten, Mut, Wut, offene Ohren und neue Denkanstöße. Die Kooperative redigierte die Artikel externer Autoren, veröffentlichte selbst Text- und Videobeiträge und prüfte jeden einzelnen der 727 Kommentare. Dabei entstand eine enge Zusammenarbeit mit der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates.

Nachdem der Online-Diskurs Anfang August zu Ende ging, galt es alles Gesagte, Artikel und Kommentare, auszuwerten. Der stillgelegte Diskurs blieb und bleibt weiterhin einsehbar. Auch die Auswertung wurde von der Kooperative durchgeführt, die sich in diesem Zuge noch einmal intensiv mit den verschiedenen im Online-Diskurs behandelten Aspekten auseinandersetzte, sie sortierte und in einer kompakten Auswertung von 68 Seiten dem Ethikrat zur Verfügung stellte.

Da diese vielschichtige Debatte nicht in den Untiefen des Netzes verloren gehen soll, entschied sich der Ethikrat gemeinsam mit der Kooperative Berlin das Diskurs-Verfahren in einer Publikation zu dokumentieren. Die Kooperative unterstütze den Ethikrat dabei beratend, was Gestaltung und Inhalt betrifft, sowie redaktionell durch die Auswahl von Artikeln, Zitaten aus Kommentaren und durch die Erstellung von Texten. Zudem erstellte die Kooperative eine DVD, die der Printpublikation beiliegt und alle Materialien des Online-Diskurses, seine Auswertung sowie Materialien der Befragung und öffentlichen Anhörung beinhaltet.

Die öffentliche Pressekonferenz am gestrigen Tag markiert das Ende einer langen und intensiven Zusammenarbeit der Kooperative Berlin mit dem Deutschen Ethikrat. Nun muss sich die Bundesregierung mit der Thematik befassen und die Presse diskutiert das Thema weiter:

Focus: Ethikrat empfiehlt ein drittes Geschlecht

n-tv: „Wir sind keine Monster“

Süddeutsche: Mehr als männlich oder weiblich

tagesschau.de: „Betroffene wurden auf das Tiefste verletzt“, „Genitaloperationen müssen verboten werden“

Welt: Ethikrat empfiehlt Angabe des „dritten Geschlechts“

Zeit: Intersexuelle bleiben für den Ethikrat Kranke

 

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