Unterrichtsmaterialien aus dem Internet laden, damit arbeiten, sie umgestalten, Neues entwickeln und anderen zur Verfügung stellen – in groben Zügen ist es das, was sich hinter dem Begriff Open Educational Resources verbirgt. Polen investiert in den OER-Gedanken, initiiert Projekte und Plattformen und stattet Schulen mit digitalen Endgeräten aus. Dr. Jochen Thermann, Autor und Referendar in Berlin, blickt auf eine Bildungsreform im polnischen Nachbarland, während die Diskussion hierzulande nur selten über Schultrojaner und Urheberrechtsverletzungen hinausgeht.

Die Schule zählt neben der GEMA und der katholischen Kirche zu den reformresistenten Institutionen der Erde. Lehrerende lehren, Schüler und Schülerinnen lernen. Ab und zu gibt’s Pause. Und Sport. Altbundeskanzler Helmut Kohl erklärte: „Die reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik ist die Kultusministerkonferenz. Im Vergleich dazu ist der Vatikan noch weltoffen.“

Unser östliches Nachbarland Polen ist uns in Sachen Schule dagegen einige mutige Schritte bzw. Klicks voraus. In der Entwicklung digitaler, frei zugänglicher Bildungsmaterialien, sog. Open Educational Resources (OER), hat die polnische Regierung im April dieses Jahres ein viel beachtetes Projekt gestartet: die digitale Schule.

Statt private, am eigenen Gewinn orientierte Schulbuchverlage zu unterhalten, fließt das Geld des polnischen Schulprojektes direkt in die Entwicklung frei verfügbarer Bildungsmittel. Die weder Eltern noch Schulen kaufen müssen, und für die auch niemand Kopierabgaben zahlen muss. 13 Millionen Euro werden vom polnischen Staat zur Verfügung gestellt, damit in einem Pilotprojekt digitale Lehr- und Lernmaterialien erstellt werden. Weitere knappe 13 Millionen Euro fließen in die Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik. Und noch einmal knapp 5 Millionen Euro dienen der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. 380 Grundschulen sollen auf diese Weise die Chancen und Grenzen digitaler Schule erproben. Insbesondere die explizite Ausrichtung auf sog. Open Educational Ressources, macht das polnische Schulprojekt Cyfrowa szkoła zu einem hochinteressanten Pionierprojekt.

Hierzulande sind OER noch immer ein Fremdwort. Man muss es übersetzen. Die Rede ist von offenen, oder besser, frei zugänglichen Bildungsmaterialien. Anders als Schulbücher, die von Schulen oder Eltern jedes Jahr gekauft werden, unterliegen die freien Bildungsmaterialien nicht dem Kopierschutz. Sie stehen zum Beispiel unter Creative Commons-Lizenzen, unterliegen lediglich der Namensnennung und können von Lehrenden verändert, von Schülerinnen und Schülern heruntergeladen und beliebig oft kopiert werden. Auf diese Weise, so die Idee, entsteht ein Schatz an Bildungsmitteln, der durch die häufige Nutzung –- anders als das Schulbuch – nicht leidet, sondern besser wird. Denn die Dateiformate der Bildungsmaterialien sollen offen, also veränderbar sein.

Die Grundlagen in Polen bildete die Arbeit polnischer Lehrerinnen und Lehrer im Ausland, die Unterrichtsmaterialien für polnische Schülerinnen und Schüler im Ausland benötigten. Die positiven Erfahrungen mit Bildungsmaterialien unter Creative Commons-Lizenz, die jenseits juristischer Grauzonen völlig legal kopiert und verwendet werden durften, sind direkt in das neue Projekt eingeflossen. OER sind daher nun auch ein integrativer Bestandteil vonCyfrowa szkoła. So werden lizenfreie e-Books produziert, auf der Seite www.scholaris.pl soll ein digitaler Wissensspeicher für polnische Lehrkräfte entstehen und für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und dessen Portale sollen Lernvideos produziert werden. Zudem ist geplant, die Materialien tatsächlich auch in einem offenen Format zur Verfügung zu stellen, das heißt, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler können sie ihren Bedürfnissen anpassen.

Die Idee solch freier Bildungsmittel beruht auf dem Gedanken der Open Source. Wohl keine andere Idee ist so eng mit dem digitalen Wandel verknüpft und keine andere Idee hat bereits so deutlich ihr großes Veränderungspotential gezeigt. Die Erfolge der Open Source liegen auf der Hand: Linux hat sich unter Informatikern weltweit durchgesetzt, das auf Linux basierende Betriebssystem Ubuntu hat auch unter Laien eine große, weltweite Anhängerschaft gefunden und Wikipedia hat mit den Mitteln der Crowd die Enzyklopädie neu erfunden und den Brockhaus beerbt.

Sollten sich die freien, elektronischen Bücher im Unterricht bewähren, stände also nichts Geringeres als eine digitale Revolution der Bildung bevor. Wissensspeicher könnten entstehen. Sammlungen von Unterrichtsmaterialien, gepflegt von einer Community, betreut von Lehrenden sowie Didaktikerinnen und Didaktikern. Statt Bücher zu schleppen, also einfach ein USB-Stick zum Lernen. Oder eine Bildungscloud. Frei zugänglich, mit eigenem Account und Aufgabenbereich. Und auch das gute, alte Papier könnte in zahlreichen Handreichungen und Kopiervorlagen, die auf der Webseite digital vorliegen, weiterhin zur Geltung kommen.

In Deutschland ist man von solchen Ansätzen weit entfernt. Hier hat man stattdessen über Schultrojaner nachgedacht. Zur Erinnerung: Nach einer Vereinbarung zwischen Kultusministerkonferenz und Schulbuchverlagen sollte die Durchsetzung von Urheberrechtsansprüchen durch Überwachungssoftware an Schulcomputern ermöglicht werden. Nur aufgrund öffentlichen Drucks ist der Einsatz von Spähsoftware, der sog. Schultrojaner noch verhindert worden.

In Polen dürften sich derartige Diskussionen bald von selbst erledigen.

 

Foto: flickr/starfive

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