Die Erinnerung an 25 Jahre Einheit bringt nichts, wir müssen sie der Vergangenheit entreißen. Ein Kommentar von Patrick Stegemann.

Das Bild sitzt. Es erzählt eine ganze Geschichte. Wird zum Symbol. Hunderte Geflüchtete drängen sich auf dem Bahnhof in Budapest, um einen Zug zu erwischen, der sie nach Deutschland oder Österreich bringen soll. Seit Tagen sperrt die ungarische Regierung den Bahnhof, lässt die syrischen Passagiere trotz Fahrkarte nicht in den Zug.

Also stehen sie vor dem Bahnhof, bevölkern die Gleise. An diesem Tag stehen sie vor einer deutschen Lok mit der Aufschrift: Europa ohne Grenzen seit 25 Jahren.

In der Abbildung daneben überwindet eine Gruppe Menschen einen Stacheldraht. Es sollen Deutsche sein an der österreichisch-ungarischen Grenze im Jahr 1989.

Das Bild soll erinnern: an 25 Jahre paneuropäisches Picknick. Damals, im Sommer 1989, hatten Ungarn und Österreich eine zunächst temporäre Öffnung des Grenzzauns vereinbart. Über die ungarische Grenze flohen tausende Deutsche. Die Berliner Mauer, sie fiel auch hier in Ungarn.

Auch deshalb feiern wir dieser Tage 25 Jahre Deutsche Einheit. Das Motto der bundesrepublikanischen Feierlichkeit im Jahre 2015 übrigens: Grenzen überwinden.

Geschichte als Farce

Die Realität 2015: Syrische Kinder, Männer, Frauen auf der Flucht vor einem mörderischen Bürgerkrieg in ihrer Heimat, vorerst gestrandet in Ungarn, einem Land, das Polizei mit Knüppel, Lager und Grenzzäune für die einzig richtige Antwort auf Menschen in Not hält. Sie stehen vor einer deutschen Reklame, die Ungarn für seine historischen Tat vor 25 Jahren dankt.

Gleichzeitig feiert Deutschland sich selbst für seine Einheit. Für ein Europa ohne Grenzen, das vor 26 Jahren mit dem Mauerfall in Berlin seinen Anfang nahm. Dabei stehen die Grenzen ja längst wieder, mitten in Europa und an dessen Rändern. Nicht erst seit diesem Sommer. An der europäischen Außengrenze starben alleine in diesem Jahr über 2000 Menschen.

Europa ohne Grenzen – das ist eine Farce.

Die Erinnerung gehört der Zukunft!

Erinnerung bringt nichts. Gerade in diesen Tagen wird oft der Satz zu hören sein: Wir müssen erinnern, um Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Mag sein. Aber was bringt Erinnerung, wenn sie politisch das Gegenteil bewirkt? Es sind dieser Tage gerade die osteuropäischen Länder, also jene, die mehr oder weniger 25 Jahre Befreiung von der Sowjetischen Herrschaft und  das Ende ihrer Abschottung feiern, die heute genau dies fordern: mehr Grenzen, mehr Abschottung, weniger Solidarität. Es ist auch die Bundesrepublik Deutschland, die „Grenzen überwinden“ sagt und doch europäische Festung meint.

Wir müssen die Erinnerung der Vergangenheit entreißen. Sie gehört nicht nur jenen, die sie erlebt haben. Erinnerung heißt nicht: Opa, erzähl uns vom Mauerfall, damit wir wissen, wie gut wir es heute haben. Erinnerung gehört der Zukunft. Die Folklore von Mauerfall und Einheit ist leer, wenn sie nicht die Zukunft miteinbezieht: Ohne eine Perspektive auf eine andere, zukünftige, bessere Gesellschaft, verschwindet auch die Geschichte, sie wird wertlos, endgültig zur Farce.

Um die Erinnerung zu retten, müssen wir sie so, wie sie in diesen Tagen gelebt wird, vergessen.

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