Twitter und das 140- Zeichen- Limit

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Twitter will das 140-Zeichen-Limit kippen. Sind die in der Krise? Was ist da los? Im US-Wahlkampf wird sicher weiterhin mit Twitter auf Stimmenfang gegangen, für die #twitteratur sieht es hingegen finster aus. Zum Glück hat Grasswire-Gründer Austen Allred Ideen für eine Erneuerung des Dienstes.

INHALT

Twitter und das 140-Zeichen-Limit

  • Krisengezwitscher?

  • Mit Twitter auf Stimmenfang

  • Saving Private Twitter

  • #twitteratur. Ein Requiem

     

    Twitter und das 140-Zeichen-Limit

    Krisengezwitscher?

    Twitter ist in der Krise. Seit einiger Zeit stagnieren die Zahlen. Wobei man nicht weiß, wie viele Nutzer_innen Twitter beispielsweise in Deutschland überhaupt hat. Das sieht schon fast nach Verschleierungstaktik aus. Stillstand ist Rückschritt im hartumkämpften Social Media Markt und die jüngeren Anbieter wie Pinterest und Co. holen auf. Schon länger halten sich Gerüchte, dass das identitätsstiftende 140- Zeichen- Limit bei Twitter aufgehoben werden soll. Twitter will zum kleinen Facebook werden, Communitybildung ermöglichen und GIFs, Videos und Audio-Nachrichten teilbar machen. Anfang des Jahres war es soweit: CEO Jack Dorsey veröffentlichte eine Stellungnahme (BILD) – und zwar in Form eine Screenshots, den er twitterte. Genau so, wie bisher Nutzer_innen die Zeichenobergrenze umgingen. Twitter befindet sich im Wandel. Die Kooperateur_innen schreiben darüber.

     

    Twitter_Stellungnahme_Dorsey

    Quelle: Screenshot Twitter Foto: https://goo.gl/FFTe2x Lizenz: CC BY 2.0

     

    Mit Twitter auf Stimmenfang

    von Bastian Tittor

    Barack Obamas Kampagne im Jahr 2008 brachte zusammen, was heute fast unzertrennlich erscheint – die Politik und den Kurznachrichtendienst mit der 140-Zeichen-Grenze. Letzterer gewann über die Jahre immer mehr an Bedeutung und ist heute kaum noch aus dem Polit-Business wegzudenken.

    Der laufende US-Wahlkampf ist das beste Beispiel. Neben den zwei Hauptbeteiligten an dieser Kommunikationsrevolution, den potenziellen Mandatsträgern_innen und den Wählern und Wählerinnen, gab es aber auch noch eine dritte Gruppe, die den Twitter-Aufstieg begrüßte: die wissenschaftliche Forschung. Twitter bot dieser eine äußerst umfangreiche und frei zugängliche Datenbasis an Kommunikationsinhalten, die es zu analysieren galt. Und anders als zuvor war dabei kein Medium mehr zwischengeschaltet. Ein direkter Austausch war realistisch – dank Twitter. Optimistisch Gestimmte waren sich geradezu sicher, dass das Twitter-Zeitalter die Phase der vollständigen bürgerlichen Deliberalisierung einläuten würde.

    Die empirische Wirklichkeit zeigte jedoch ein anderes Gesicht. Die dauerhaften beidseitigen Kommunikationsprozesse, welche einen ständigen gesellschaftlichen Diskurs zwischen allen Ebenen tragen sollten, blieben größtenteils aus. Viele politische Akteure nutzten ihren Twitter-Kanal mehr als persönliche kleine Pressestelle denn als Plattform zum Bürgerdialog. Auf der Agenda stand meist viel Information zur eigenen Position. Aber im Prinzip nicht viel mehr als das, was ohnehin schon auf Wahlplakaten zu lesen war. Natürlich gab es auch Gegenbeispiele, in denen tatsächlich Debatten auf Augenhöhe aufkamen. Diese verleiteten Twitter-Romantiker erneut dazu, die Habermas’schen Ideale zu beschwören. Dennoch konnten diese seltenen Dialoge ihren Ausnahmestatus niemals wirklich ablegen.

    Doch wer ist jetzt eigentlich schuld an der Misere? Selbstsüchtige Politiker? Politikfremde Bürger? Oder doch das verflixte Zeichenlimit? Zumindest Letzteres sollte bald auch empirisch überprüft werden können – Twitter steht wohl vor dem Abschied vom Zeichenlimit. Ist das die Initialzündung für politische Debatten zwischen Politiker_innen und Bürger_innen? Zweifel bleiben.

     

    Twitter_User_Growth

    Quelle: http://goo.gl/ijfCYU Screenshot

    Saving Private Twitter

    von Merlin Münch

    Twitter droht an Relevanz zu verlieren. Woran liegt das? Diese Frage beschäftigt nicht nur Twitter-CEO Jack Dorsey. Austen Allred, Co-Gründer des amerikanischen Medien-Start-Ups Grasswire, hat sich Gedanken über die Zukunft des Unternehmens gemacht. Allred liebt Twitter. Er besitzt keine Aktien, kennt niemanden der dort arbeitet – er liebt das Produkt. Aber auch er hat erkannt, dass der Dienst sich erneuern muss, um seine User_innen bei der Stange zu halten. In seinem Beitrag auf medium.com fragt sich Allred also, was er anders machen würde, wenn er selbst für das Produkt Twitter verantwortlich wäre. Hier sind einige seiner Vorschläge und Bemerkungen zusammengefasst:

    1. Keep it short!
    Die viel diskutierte 140-Zeichen-Begrenzung soll laut Allred bestehen bleiben. Kurz ist gut, findet er. Kurz macht den Dienst dynamischer als die Konkurrenz. Um aber dem Bedürfnis der User_innen nachzukommen, längere Nachrichten abzusetzen, schlägt Allred eine neue Funktion vor: Posts. Ein simpler Anhang, ähnlich wie Bilder, Videos oder Umfragen, soll dem User ermöglichen längere Textschnipsel an seine ursprüngliche Nachricht anzuhängen. Nutzer_innen gehen bereits Umwege über Tweetstorms oder externe Dienste wie TwitLonger, warum also nicht eine In-App-Lösung anbieten?

    2. Kuratierte Tweetstorms
    Tweetstorms (eine Reihe hintereinander abgesetzter, zusammenhängender Tweets) haben den Vorteil, dass jeder Tweet individuell geteilt, geliked und beantwortet werden kann. Oft gehen diese Tweets aber in der Timeline verloren, oder die Reihenfolge wird unübersichtlich. Die Lösung? Eine kuratierte Tweetliste, ähnlich dem bereits vorhandenen Umfragetool. Der Ur-Tweet lässt sich aufklappen und darunter befinden sich – in korrekter Reihenfolge – alle weiteren, dazugehörigen Nachrichten.

    3. Follow me, follow you
    Einer der größten Nachteile von Twitter, vor allem gegenüber der Konkurrenz von Facebook, sei die mühsame Zusammenstellung sinnvoller Follower-Listen. Zu ungenau sei der Social-Graph, also der Algorithmus, der die eigene Timeline kuratiert und interessante User_innen vorschlägt, findet Allred. Während das eigene Netzwerk bei Facebook exponentiell wächst, in dem man sich gegenseitig „added”, muss man sich die Gefolgschaft auf Twitter hart erarbeiten. Vor allem unerfahrene Nutzer schrecke das erstmal ab, meint Allred. Seine Forderung: Bessere Tools um einfach eine starke Timeline und Followerschaft aufzubauen.

    4. One moment, please!
    Moments ist der Versuch eines Nachrichtenüberblicks mit Links zu den wichtigsten Stories (Anschläge von Paris, Champions League Finale, etc.). Von Twitter kuratiert und auf einer Übersichtsseite gesammelt. An sich ein super Gedanke, findet Allred, jedoch würden die ihm angebotenen Inhalte selten mit seinen tatsächlichen Interessen korrelieren. Das Problem, glaubt Allred, liege darin, dass Twitter mit Moments versucht Inhalte zu finden, die alle User_innen interessieren. Das ist Quatsch und unmöglich, findet er. Stattdessen solle die Funktion individualisiert auf die Interessen einzelner Nutzer_innen ausgerichtet sein, um so einen wirklichen Mehrwert zu bieten.

     

    netbeat4:16_tweet180Grad

    Quelle: https://goo.gl/aycUiC Lizenz: gemeinfrei

     

     

    #twitteratur. Ein Requiem

    von Tim Holland

    Dass sich Literatur ständig verändert, ist klar. Die Bibliothekare im Deutschen Literaturarchiv Marbach sind heute aufgefordert, nicht nur Kritzeleien auf Fresszetteln zu verwalten, sondern müssen immer wieder neue Ideen entwickeln, um die temporären literarischen Erscheinungsformen von Notizzetteln über Floppydisks bis hin zu Onlinepublikationen lesbar zu halten.

    Seit dem Start des Microblogging-Systems hat sich auf Twitter eine eigenständige Literatur entwickelt. In Textpartikeln wurden poetische Alltagsbeobachtungen festgehalten, die Gegenwart sprachspielerisch kommentiert oder in 140-Zeichen-Häppchen von Großem erzählt. So entstanden solche – im besten Sinne verrückte – Texte wie der einzige feministische Agententhriller, den ich kenne: Jennifer Egan, Blackbox. So fand der US-amerikanische Germanist Eric Jarosinski mit @NeinQuarterly eine Möglichkeit der Wissenschaft immer wieder sehr unterhaltsam ein Schnippchen zu schlagen. So wurden Bücher im schönen EBook-Verlag Frohmann publiziert: Über 140 Zeichen. Autoren geben Einblick in ihre Twitterwerkstatt (quasi eine Poetik dieser neuen Literatur). So geht das aber womöglich nicht mehr weiter. Denn die Zeichenobergrenze soll fallen und damit das identitäre Merkmal dieser Literatur. Im freien Raum werden die Texte wohl zunehmend ausfasern und an Konzentration verlieren. Kreativität funktioniert in Schranken eben doch besonders gut.

    Ein Grund zur Trauer? In meiner Jugend wurden in der Bravo noch Abkürzungen wie ZuMioZuDi verraten. Reine Poesie! Als eine SMS noch 160 Zeichen hatte und nicht Romanlänge, entstanden auch dort durch die Beschränkung bedingt, spannende Texte. Ich wollte auch immer ein Gedicht schreiben, das mit T9-Verwechslungen spielt, hatte aber, bevor ich dazu kam, ein Smartphone… Zuletzt wurden auf Twitter Screenshots von Texten gepostet, um das Zeichenlimit auszuhebeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Twitteratur in ihrer originären Form überlebt, wenn es möglich ist, bis zu 10.000 Zeichen in einem Post unterzubringen (selbst wenn im ersten Moment nur die ersten 140 Zeichen zuerst sein sollten). Das ist aber nicht schlimm, denn es gibt genug spannende Literatur auf den Social Media Kanälen. So kann man zum Beispiel Jennifer Sargnagel abonnieren und schreiend komische Callcenter Monologe lesen oder Aboud Saeeds literarische Statusmeldungen aus dem Krieg in Syrien. Twitter hat das Hashtag in die Literatur gebracht. Danke dafür.

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