Foto: Philipp Baumgarten

Drei Tage auf den Spuren eingeschliffener Narrative über Ost und West – gesellschaftlich und in den Medien. Bei einer SummerSchool der Kooperative Berlin in Zeitz erfuhren junge Journalist:innen, dass sie mit ihren Fragen erst an der Spitze des Eisbergs historisch gewachsener Vorurteile kratzten – und werkelten an neuen Narrativen.

„Nudeln mit Ketchup? Hallorenkugeln? Na, da kann ich ja gleich nach Hause gehen!“, entrüstet sich eine Teilnehmerin bei der Feedbackrunde. Gerade haben wir das Ende unserer SummerSchool über journalistische Perspektiven zur deutschen Teilungsgeschichte erreicht. Die Teilnehmerin bezieht sich auf ein digitales Treffen der Gruppe einige Wochen zuvor, zu dem der Medienwissenschaftler Lutz Mükke einen Überblick seiner Studie „30 Jahre staatliche Einheit, 30 Jahre mediale Teilung“ gab. Als gemeinsames Warm-Up zählten wir alle unsere ersten drei Assoziationen zum Thema „Ostdeutschland“ auf. Dabei fielen teilweise auch – für manch Eine:n anstößige – Vereinfachungen wie die besagten Nudeln mit Ketchup. Zugegeben: Nach den ersten drei Assoziationen zum Westen wurde nicht gefragt. Doch ging es im Vortrag genau darum: Die Reproduktion von Stereotypen über den Osten in überregionalen Medien – und was das mit unserem Blick auf den Osten macht. Denn Journalismus zeigt Gesellschaft einerseits und erschafft sie andererseits auch mit. Aus der Medienforschung wissen wir, dass mit der Stereotypisierung und Vereinfachung oft auch eine Abwertung des Ostens einhergeht, Erfolgsgeschichten kaum erzählt werden und viele Regionen vollständig aus dem Blick geraten. Doch wie kann ein neues Erzählen über den Osten aussehen? Wie kommen neue, insbesondere junge Stimmen und Perspektiven in die Medien? Was passiert, wenn wir von vor Ort berichten, auch gemeinsam mit Menschen, die es betrifft und nicht immer nur „über“? Und inwiefern helfen uns hier Überlegungen zu „Othering“ und „Constructive Journalism“?

Mit diesen Fragen und 20 angehenden Medienschaffenden fanden wir uns Ende August 2022 drei Tage lang in Zeitz, Sachsen-Anhalt, auf dem Kunst- und Kulturgelände Kloster Posa ein – weit über der Stadt auf einem Hügel thronend, Weinreben im Rücken, die ehemals reiche Industriestadt, nun voll verlassener Ruinen, am Fuße. In der Ferne winkt ein Zipfel Leipzig. Hier tummelt sich die Kreativ-Elite, was die Zeitzer im Ort von dem Treiben halten, ließ sich zunächst nur erahnen. Von wilden Drogen-Partys über Voodoo-Zeremonien gehen viele Gerüchte über Posa um. Das Gelände wurde von einer Gruppe junger Menschen gepachtet. Ein Verein, bestehend aus gebürtigen und zurückgekehrten Zeitzer:innen, Leipziger:innen und auch einigen „Westler:innen“ auf der Suche nach Freiraum und Freiflächen. Davon gibt es hier genug. Nicht nur oben auf Posa, sondern auch unten, die im 19. Jahrhundert gepflasterten Straßen von Zeitz säumend. Seit nach dem Ende der DDR fast ein Drittel der Bevölkerung abgewandert ist, prägt vor allem Leerstand das Stadtbild, das Innere der Gebäude wirkt fast, als wären sie vor langer Zeit fluchtartig verlassen worden. Tapetenreste, Möbelüberbleibsel. Was ist mit Zeitz geschehen und warum sollten sich junge Medienschaffende dafür interessieren?

Die Berichte der Anderen

Das Konzept des „Othering“ spielt bei theoretischen Auseinandersetzungen mit der Transformationsgeschichte Deutschlands eine erhebliche Rolle. Es beschreibt den Prozess, vom Großteil der Gesellschaft innerhalb der eigenen Gruppe zum „Anderen“, also dem Eigentlichen entgegensetzt, und somit zum Fremden gemacht zu werden. Der Begriff findet sich vor allem im Rassismusdiskurs wieder. Die Stereotypisierung des Ostens in der medialen Berichterstattung folgt jedoch auch viele Jahre nach 1989 den gleichen Mechanismen: Lustige Dialekte, Plattenbau und Ausländerfeindlichkeit – im Prinzip alles Dinge, die es im Westen auch gibt. Die Zahlen sprechen natürlich für sich, das vergleichsweise hohe Gewaltvorkommen, gerichtet gegen Ausländer:innen in den neuen Bundesländern, vor allem während der sogenannten „Baseballschlägerjahre“. Oder die Tatsache, dass die AfD ihre größten Wahlerfolge in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen feiert. Die spaltende Kraft der aktuellen Medienlandschaft liegt jedoch im ausschließlich problematisierenden Fingerzeig. Fragen danach, welche Erzählungen der Osten noch birgt und was z. B. junge Menschen heutzutage in Bezug auf ihre Herkunft umtreibt, schaffen es seltener in die Redaktionsbüros überregionaler Medien.

Zum Beispiel die Geschichten von Katharina Thoms. Die aus Brandenburg stammende Journalistin befragte ihre Mutter im Rahmen eines selbst initiierten, mittlerweile preisgekrönten Podcast-Projekts zu deren Leben in der DDR und erzählte von einer Frau, die als Katholikin ihr halbes Leben in der ehemaligen DDR verbracht hat und somit vom Alltag in kirchlichen Strukturen innerhalb eines sozialistischen Lands. Katharina Thoms hielt in Zeitz einen Vortrag über ihr Podcastprojekt und verdeutlichte dabei den Teilnehmenden, wie man sein eigenes Leben als Vehikel einer größeren historischen Erzählung durch die journalistische Befragung von Familienmitgliedern erst abseits der ausgetretenen Medienpfade verstehen kann. Ein Journalismus, der Erfahrung und Leben von Menschen portraitieren möchte und nicht deren Abgehängtheit, der in Leerstand Entwicklungspotentiale und nicht Verfehlung sieht, der die geeinte deutsche Gesellschaft als ein Gemeinsames sieht und nicht als Verlierer und Gewinner und der es trotzdem schafft, auch kritische Aspekte eines Lebens in einer Diktatur mitzuzählen.  Darauf aufbauend setzten sich die Teilnehmenden am zweiten Workshoptag mit der Grundhaltung des Konstruktiven Journalismus auseinander, angeleitet von Morgane Llanque, Redakteurin beim Enorm-Magazin. 

Geschichten von Umbruch

Zum Konstruktiven Journalismus gehört nicht nur, wie man schreibt, sondern auch, über wen. Artikel-Protagonistinnen und Protagonisten der Teilnehmenden waren neben Mitgliedern des Kloster Posa-Vereins auch der Literaturwissenschaftler und Autor Roland Rittig, der 1944 in Böhmen geboren wurde, in Halle studiert hat und inzwischen direkt gegenüber der berühmten Ruine der Paul-Wegmann-Schule wohnt. Oder Rämo und Scratchy, die selbst als Kinder auf diese Schule gegangen sind, bis sie geschlossen wurde. Heute verschlägt es sie noch immer dorthin – nun aber, um sich mit Spraydosen auf den modernden Wänden zu verewigen. Die Ruinen sind heute ein jugendkulturelles Phänomen im sonst demographisch eher im oberen Altersbereich angesiedelten Zeitz. Neben der Graffiti-Kunst finden dort auch (von der Polizei geduldete) Partys statt, für die es sogar die Großstädter:innen aus Leipzig nach Zeitz verschlägt. 

Vor allem persönliche Erfahrungen spielten für die Teilnehmenden des Workshops als Reflektionsgrundlage eine wichtige Rolle. Denn: Wer spricht eigentlich, wenn wir Berichterstattung über den Osten lesen? Welche Perspektiven prägen den Diskurs – und die stereotypen Vorstellungen? „Für mich entwickelte sich aus der Scham, ostdeutsch zu sein, mit der Zeit eine Wut. Warum bekomme ich ständig Klischees zu hören, sobald es darum geht, dass ich aus Dresden komme?“, schreibt die Teilnehmerin Thea-Marie Klinger, andere berichten aus ihrer Familiengeschichte wie Jasmin Nimmrich: „Statt Neugier und Versuchen der Aufarbeitung begegneten meinem Vater Fragen wie: ‚Hättest du auch auf mich geschossen, wenn ich versucht hätte, das Land zu verlassen?‘“ Es entstanden Portraits von den Menschen, denen wir in Zeitz begegneten, und von Orten wie der ehemaligen Nudelfabrik und Polyklinik, die von einem Investor:innenpaar aus Hannover zu Luxusapartments umgebaut wurden, Auseinandersetzungen mit der sogenannten „Critical Westness“, viele Ansätze, Umbruchserfahrungen in Worte zu fassen, die das Phänomen lebensnäher und emphatischer beschreiben als „Nazis“ und „Abgehängtheit“.

Neue Perspektiven zwischen Ost und West

Während seiner Zeit in West-Berlin fertigte David Bowie Malereien an, die von Isolation erzählten – neben türkischen Gastarbeitern zeigten diese ebenso aus dem Osten geflohene Menschen. Seit der Wiedervereinigung fühlen sich viele Leute auch im Osten isoliert. Dem notwendigen Diskurs über die daraus resultierende gesellschaftliche Spaltung können sich junge Medienschaffende aus neuen und alten Bundesländern mit der Differenziertheit einer oder mehrerer Generationen Abstand nähern – wenn man sie lässt. Wenn man ihnen und ihren Themen den nötigen Platz in überregionalen deutschen Redaktionsbüros schafft. Und etwas Zeit gibt. Denn drei Workshoptage in einer SummerSchool stoßen ein gemeinsames Nachdenken an, daran anschließend gibt es noch viel Potential für die Entdeckung neuer Narrativen zum Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland.                                                             

Das Projekt „Freischwimmen. SummerSchool zu #RevolutionTransformation“ möchte hier mit vergleichbaren Workshop-Konzepten weitermachen. 

Sprechen Sie uns bei Interesse gern an: www.freischwimmen-summerschool.de

Autorin: Nina Heinrich

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