Digitale Medien, digitale Didaktik, Blended Learning, Tablet-Klassen. Nicht nur Medien erleben aktuell einen fundamentalen Wandel durch technische Innovationen. Auch die Bildung sieht sich seit einigen Jahren mit technischen Neuerungen konfrontiert, die die Lebenswelt von Lehrenden und Lernenden drastisch verändern. Die Reaktionen insbesondere in nmovr schulischen Bildung sind vielfältig: von bekannten Abwehrreflexen bis hin zu wagemutigen Pilotprojekten. Aber welche (digitalen) Innovationen in der Schule machen eigentlich Sinn und wie können Veränderungen im Bildungssystem gestaltet werden? Im Rahmen unseres Projektes der Werkstatt.bpb haben wir im Jahr 2015 mit einigen Expertinnen und Experten gesprochen und viele Fragen gestellt. Die Ergebnisse fanden bislang nicht den Weg an die Öffentlichkeit. Jetzt, im Jahr 2016, scheinen die Erkenntnisse aktueller als je zuvor.
Von Oliver Baumann-Gibbon, Kaja Wesner, Jaana Müller
Viele Stimmen behaupten, dass sich das Lernen in den Schulen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wesentlich verändert hat – zumindest die Grundprinzipien in der Breite seien die gleichen. Ein (zumeist männlicher) Schuldirektor, ein Kollegium, häufig Frontalunterricht durch eine Lehrerin oder einen Lehrer vor durchschnittlich 24 Kindern in der Sekundarstufe 1. Wenig Kooperationen unter den Lehrkräften, und zwischen Lehrenden und Lernenden usw. Kurz: die Lehrenden sollen lehren und die Lernenden sollen das Gesagte verinnerlichen. Aber reicht das, um die Schülerinnen und Schüler auf veränderte digitale Arbeitswelten, interkulturelle Herausforderungen und auf eine kreative, kritische Wissensgesellschaft vorzubereiten?
In der Vergangenheit, so konstatiert Prof. Gerald Hüther in einem im Jahr 2015 gestarteten MOOC (Onlinekurs), sollten sich Schülerinnen und Schüler möglichst viel Wissen aneignen; heute sei jedoch durch Hirn- und Lernforschung klar, dass Wissen nur dann im Hirn verankert wird, wenn es selbst erarbeitet wurde. Eigentlich dürften Lehrende nicht unterrichten, vielmehr müssten sie Kinder einladen, Wissen selbst zu finden, selbstgesteuert zu lernen. Und wenn man dieser und anderen Erkenntnissen zumindest in Ansätzen folgen kann, müsste sich die Schule im Sinne der Schülerinnen und Schüler verändern, neu erfinden, müssten Innovationen – strukturell große wie kleine, methodische und technische – schneller Einzug in das System Schule finden. Und gerade hier könnten digitale Techniken wertvolle Unterstützung leisten.
Gehen wir einmal davon aus, dass aufgrund lebensweltlicher Veränderungen zumindest ausgewählte Innovationen nötig sind, so stellt sich die Frage, wer diese (Bildungs-) Innovationen identifiziert und vor allem, wie diese in die Schule gelangen und etabliert werden? Im Kontext des Projektes werkstatt.bpb.de haben wir mit Expertinnen und Experten, Schulleiterinnen und -leitern, Lehrenden, dem Institut für Schulentwicklung, aber auch innovativen „lernenden“ Firmen und Organisationen gesprochen. Zudem haben wir Projekte wie „Schule im Aufbruch“, „der Deutsche Schulpreis“ und „Schulen im Team“ näher angeguckt. Rede und Antwort standen: Sabine Frank (Google Deutschland), Prof. Holger Herz (Universität Mannheim), Hanna Järvinen (Institut für Schulentwicklungsforschung), Sebastian Haselbeck (Collaboratory Internet & Gesellschaft), Prof. Christoph Meinel (Hasso Plattner Institut), Dr. Roman Rösch (Projektbüro Deutscher Schulpreis) und Sebastian Seitz (Technologiestiftung Berlin).
Bedarfe nach Veränderungen gibt es genug
Im Bildungsbereich gibt es einen erheblichen Bedarf nach Veränderung und dieser wird auch von Lehrenden selbst formuliert: Vorhandene starre Hierarchien in den Schulen stehen persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten entgegen, finanzielle Engpässe bremsen technische Erneuerungen, die strukturelle Trägheit des Bildungssystems verzögert schnelle und individuelle Anpassungen, zentrale Vorgaben der Länder behindern autonome Entscheidungen von Schulen, mangelnde Kommunikationsinstrumente und -Kompetenzen erschweren Austausch und Kooperationen zwischen den Lehrenden, aber auch zwischen allen Bildungsakteurinnen und -akteuren.
Motivierendes Arbeitsklima schaffen
Wenn Lehrende sich verändern und offen gegenüber Innovationen sein sollen, dann muss in einem ersten Schritt ein entsprechendes Arbeitsklima geschaffen werden oder – noch besser – bereits vorhanden sein. Lehrerinnen und Lehrer sind nämlich keine Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, sondern sollten kooperieren und kollaborieren, sollten sich austauschen, Feedback geben. Entsprechend sollte das Kollegium – außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit – mehr Zeit für die Arbeit am und im Team haben. Engagement sollte belohnt werden, denn eine Entwicklung bzw. Veränderungen aus sich selbst heraus sind effektiver als externe Analysen und Vorgaben. Dieser Erkenntnis stehen bekannte Herausforderungen entgegen: Die Lehrenden arbeiten zumeist noch in relativ abgeschlossenen Systemen, interschulisch und intraschulisch. Hierarchien bzw. mangelnde Weiterentwicklungsmöglichkeiten verhindern Belohnungssysteme sowie dauerhaftes Engagement und persönlichen Mehraufwand.
Technische Infrastruktur modernisieren
Produktzyklen werden immer kürzer, verschiedenste technische Innovationen sind im gesellschaftlichen Alltag außerhalb von Schulen bereits etabliert, in den Schulen wird mit veralteter Technik gearbeitet. Die Schulverwaltungen sind jedoch bereits bei der Entscheidung überfordert, welche Technik wann mit welcher Software angeschafft werden soll. Hinzu kommt noch die fehlende Kompetenz einer professionellen Betreuung und Wartung der Technik – egal ob interaktives Whiteboard, Internet, Intranet, Server etc. Ein Ansatz könnte die selbstbestimmte Auslagerung der Technik und deren Wartung an eine regionale oder landesweite zentrale Stelle sein, die zugleich einen sicheren Speicherort bereitstellt.
Andererseits drängen zahlreiche Unternehmen in den Bildungsmarkt. Die Konsequenz sind verschiedene Insellösungen, die jede für sich zwar einen wichtigen Pilotcharakter haben, einem schlüssigen Gesamtkonzept für mehrere Schulen oder ganze Länder aber widersprechen. Schul- oder Landesebene sind sich nicht einig, ob man besser auf offene Systeme (OpenSource) oder auf geschlossene Systeme, wie von Apple oder Microsoft, setzen soll. Eine weitere Herausforderung sind Datenschutzvorgaben sowie Sicherheits- und Schutzaspekte.
„Eine Schulcloud könnte die Länder und Kommunen entlasten, indem Programme und Systeme zentral bereitgestellt und gepflegt werden.“ – Prof. Christoph Meinel, Hasso Plattner Institut
Inhaltliche Arbeit qualitativ verbessern
Die Bildungsarbeit im Zeitalter einer heterogenen und digitalisierten Gesellschaft erfordert ein Umdenken in der Pädagogik, unabhängig der Forderung nach einer digitalen Didaktik. Lernkonzepte und offene Lernmaterialien, die die digitalen Möglichkeiten umfassend berücksichtigen und einsetzen, werden benötigt. Damit geht einher, dass in einer individualisierten Lernumgebung, die Veränderungen gegenüber offen ist und verschiedene Lerntypen mitnehmen will, der standardisierte Druck (Stichwort Noten) reduziert werden müsste. Die Schule selbst hat nicht mehr die Wissenshoheit, sie wird selbst zu einer lernenden Organisation.
Das Problem einer digital ausgerichteten und lernenden Organisation ist jedoch oft, dass diese schlichtweg ihr Personal überfordert. Die Ansprüche an die Kompetenzen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Bildungseinrichtung werden vielfältig, die tradierten didaktischen Kompetenzen reichen nicht mehr aus. Eine weitere Herausforderung für diesen Bereich ist auch eine nachhaltige Umstrukturierung: Allein vom Zeitgeist getriebene und kurzfristig implementierte Innovationen werden selten langfristig positive Veränderungen herbeiführen.
Autonomie und Selbstverantwortung ermöglichen
Jede Schule, jedes Land, jede Region hat ihre eigenen spezifischen Charakteristika. Die Lernenden sowie aktuelle Ereignisse und Entwicklungen verlangen individuelle Lösungen für die Entwicklung von Schulen. Zentrale Strukturen und Systeme können diesen heterogenen Anforderungen weder gerecht werden, noch sind diese schnell und flexibel. Schulen, die mehr Eigenverantwortung für ihr Budget haben, gehen damit auch besser im Sinne der Lernenden damit um. Diese Steigerung der Selbstverantwortung kann durch die Stärkung der informellen Strukturen und durch die Etablierung von Netzwerken zwischen Schulen und Lehrenden erfolgen.
„Schulen sollen selber entscheiden, welche Fortbildung sie brauchen“ – Jens Großpietsch, Heinrich-von-Stephan Reformpädagogische Gemeinschaftsschule, Berlin
5. Kommunikation- und Informationsprozesse kultivieren
Kommunikation findet in der Schule meist im Lehrerzimmer statt, es sollten jedoch weitere Kommunikationsräume geschaffen werden, im analogen wie im digitalen Umfeld. Die Vernetzung zwischen den Lehrenden und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sollten gefördert werden. Die Herausforderungen hierbei sind vielfältig: mangelnde Erreichbarkeit der Lehrenden, teilweise ungeübte digitale Kommunikationskulturen sowie fehlende Informationsangebote und Teambuildingmaßnahmen. Ein Ansatz wäre dabei, neben fachlichen Fort- und Weiterbildungen auch spezifische Angebote im Bereich der Kommunikation zu schaffen. Ein weiterer Ansatz ist, auf die intrinsische Motivation von Kommunikation und Vernetzung zu setzen. Kommunikation und Kollaboration starten dort, wo es einen Mehrwert bietet.
„Mehr Informationen zentral bereitstellen“ – Sebastian Haselbeck, Collaboratory Internet & Gesellschaft
Innovationen weitergeben
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Innovationen gerade durch (informellen) Austausch und Netzwerke entstehen und dass Handeln und Arbeiten in Netzwerken und Teams identitätsstiftend und somit nachhaltiger für die Weiterentwicklung einer Organisation sind. Aber wie können die einen von den Kenntnissen der anderen profitieren? Wie kann ein Wissenstransfer im Bildungsbereich erfolgen? Hier einige Vorschläge:
Hospitationen in anderen Organisationen, von Schulen bis zu innovativen Organisationen und Unternehmen bringen neues Wissen in die Schule, generieren Perspektivwechsel und neue Erfahrungen. Es sollte jedoch sichergestellt werden, wie anschließend ein Wissenstransfer in die eigene Schule bzw. die Implementierung des Erlernten erfolgt.
Fortbildungen sollten den Lebenswelten der Schulen und zukünftigen Herausforderungen entsprechen, sollten auch Kompetenzen vermitteln die u.U. nicht primär der Wissensvermittlung dienen.
Schulen dürfen sich auch beraten lassen. Externe Beratungen, die durch die Schule selbst angefragt werden, können sinnvolle Impulse geben. Sicherlich muss hierbei die Herausforderung hinsichtlich der Bezahlung solcher Leistungen mitgedacht werden.
Einzelne Lehrkräfte mit besonderen Kompetenzen und hohem Engagement können als Botschafterinnen oder Coaches gefördert und unterstützt werden, ihr Wissen weiterzugeben und an Lösungen zu arbeiten.
Netzwerktreffen, die nicht explizit Fort- und Weiterbildungen sind (aber als solche angerannt werden), können einen interschulischen und interdisziplinären Austausch auf Augenhöhe unterstützen.
Datenbanken und Blogs, die so genannte „Good -“ oder „Best Practice“-Beispiele als Fälle beschreiben, können Ideen, Ansätze und Lösungen für und von digitalen Innovationen leichter auffindbar machen.
Change! Eine Vision?
Innovationen bringen Veränderungen und modifizieren tradierte Verhaltensweisen. Und Veränderungen bringen Unruhe, sorgen vielleicht sogar für Verunsicherung, erfordern Zeit und das Erlernen neuer Kompetenzen. Wie lassen sich also Anreize schaffen, dass Schulen und somit Schulleitungen und Lehrende sich Innovationen öffnen, dabei neugierig und bereit für Veränderungen sind und diese für den eigenen Lehr- und Lernkontext (weiter-) entwickeln können? Und wie kann dies stattfinden, ohne dabei die Herausforderungen und Ängste, die in einigen Schulen und unter manchen Lehrkräften vorherrschen, zu vernachlässigen?
Die Leistungen einzelner sollen sichtbarer gemacht werden, Raum und Zeit für Ideen muss vorhanden sein, Visionen müssen vorgelebt werden und Offenheit sowie eine konstruktive Feedback- und Fehlerkultur sollten natürliche Elemente einer lernenden Organisation Schule sein. Auch Lehrende sind Menschen und die sind nicht unfehlbar. Dennoch scheint eine Fehlerkultur oder eine Tendenz zur Unvollkommenheit seitens der Lehrkräfte weniger ausgeprägt als in anderen Berufszweigen. Zwar sollen die Lernenden aus ihren Fehlern lernen, doch ist die Hemmschwelle seitens der Lehrenden selbst Fehler zu machen, sehr groß – schließlich passiert das vielfach vor Publikum. Gerade im Umgang mit neuen Technologien sind die Schülerinnen und Schüler oftmals kompetenter als ihre Lehrperson. Dies kreiert eine Angst vor Kontrollverlusten und vielfach befeuert es die Innexistenz der Technologienutzung im Unterricht.
Und da all diese Herausforderungen nicht mal eben schnell umgesetzt werden können, und Schule bekannterweise auch aus Fächern besteht, haben wir uns ein neues Unterrichtsfach ausgedacht: „Ergebnisoffenes Entwickeln“. Aber nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch oder insbesondere für die Lehrerinnen und Lehrer:
Lehrende und Lernende eines Jahrgangs bekommen fächerübergreifend Zeit, um Ideen zu spinnen, neue Unterrichtsformate und Bildungsmaterialien zu entwickeln, sie im Anschluss mit den anderen Schülerinnen und Schülern zu erproben und zu evaluieren. Kollaborativ in Arbeitsgruppen oder über die digitale Plattform, angebunden an das Schulcloudsystem, in dem alle (Open Source) Dateien geschützt liegen können. Die Schulleitung, idealerweise ein Team, unterstützt, gibt Raum und leitet die Schule kooperativ und in Zusammenarbeit mit dem Kollegium. Und Noten spielen in diesem Fach keine Rolle, Veränderungen sind gefordert und Fehler erwünscht, denn bekanntlich lernt man aus diesen. Wie gesagt, eine Vision.
Tags: werkstatt.bpb, Innovation, Bildung
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